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Rave Against The War


INTERVIEW mit ANNA DEMIDOVA von The Run: Refugee Rave Team

Frage: Wann bist du in Berlin angekommen?

Anna: Am 8. März 2022.

Frage: Was war dein Grund, Russland zu verlassen?

Anna: Als der Krieg am 24. Februar letzten Jahres begann, habe ich an den Protesten in Moskau teilgenommen. Wenn man protestiert, gibt es normalerweise immer eine Organisation oder eine Person, die das organisiert. Es ist also gut organisiert und die Leute wissen, wohin sie gehen sollen, was sie tun sollen. Aber in diesem Fall war es sehr spontan, es geschah einfach aus dem Willen der Menschen heraus, die gegen den Krieg waren und den Krieg lächerlich fanden. Es fehlte an Organisation, die Polizei dagegen war sehr gut organisiert. Viele größere Organisationen, die normalerweise den Protest organisieren würden, schlugen vor, es wäre besser, Basisorganisationen zu bilden, organisiere deine Freunde, die Leute, die du kennst und gehe zu den kleinen Protesten, weil sie schwerer von der Polizei zu erfassen sind.

Frage: Du hast dann selbst etwas organisiert?

Anna: Ich wollte meinen Teil beitragen und ging jeden Tag auf die Straßen Moskaus, um zu protestieren und ich sah, dass es jeden Tag mehr und mehr Polizei gab, immer weniger Menschen gingen auf die Straße, weil sie Angst hatten. Ein paar Tage nach Kriegsbeginn war es fast unmöglich, im Moskauer Stadtzentrum zu demonstrieren, sobald man aus der Metrostation kam, wartete ein Polizeiauto auf einen. Und jeden Tag sah ich mehr und mehr Autos mit Z-Zeichen und immer mehr Kriegsbefürworter, ich fand die so lächerlich.

Frage: Aber es wurde gefährlicher?

Anna: Ja, es war nicht mehr sicher für mich, auch weil die Polizei versucht hat, mich zu schnappen und irgendwie sah ich auch, dass all meine Bemühungen irgendwie sinnlos waren. Das war der Moment, als ich den Entschluss fasste, zu gehen, und weil ich wusste, dass die Polizei hinter mir her war, musste ich diese Entscheidung sehr, sehr schnell treffen. Ich musste mein ganzes Leben in einen Koffer packen und hatte nur einen Tag Zeit, um das zu erledigen. Also ich weiß nicht, es war verrückt, aber ich habe es geschafft. Ja und dann bin ich gegangen.

Frage: Hast du vor, zurückzugehen?

Anna: Ich kann nicht. In dem Moment, in dem ich ankomme oder kurz danach werde ich von der Polizei verhaftet und ins Gefängnis geschickt. Und das kann ich nicht zulassen, wenn man sich von der Polizei verhaften lässt und ins Gefängnis kommt, wird man daran gehindert, etwas zu tun. Aber es ist wirklich wichtig, zu protestieren, etwas zu tun, sich diesem System zu widersetzen. Wenn man im Gefängnis sitzt, kann man nichts ändern.

Frage: Wann hast du in Russland mit dem Theater angefangen?

Anna: Ich habe schon als Kleinkind Rollen gespielt für meine Familie, dann in der Schule, ich besuchte Theaterkurse, ging auf eine Universität, um Schauspiel zu studieren und begann meine Schauspielkarriere. Aber ich dachte immer, dass ich mehr kann als nur die Worte zu wiederholen, die jemand anderes für mich geschrieben hat. Also habe ich irgendwann eine eigene Performance gemacht, mir wurde klar, dass ich selbst etwas zu sagen habe, Werte zu vermitteln habe und etwas, das ich für wirklich wichtig halte. Damals hatte ich noch keine Ausbildung als Regisseurin, also habe ich einfach ein Team zusammengestellt, es gab eine Menge Leute, die überraschenderweise mit mir arbeiten wollten und so haben wir diese Aufführung mit sechs Schauspielern und vier Musikern gemacht. Es gab eine Band und es war echt verrückt. Danach habe ich angefangen, mich weiterzubilden und 2018 habe ich dann meine eigene Theatercompagny gegründet mit dieser ersten Theaterproduktion. Dann habe ich angefangen, mehr und mehr zu machen und hatte fünf Jahre lang dieses Theater in Moskau.

Frage: So ähnlich wie jetzt?

Anna: So ähnlich wie jetzt. Aber im Augenblick könnte ich nicht sagen, dass wir eine Compagny sind. Wir sind ein Haufen Theaterleute, waren für eine Reihe von Aufführungen zusammen und haben jetzt angefangen, die zweite für das Performance Festival in Berlin Anfang Juni 2023 zu machen.

Frage: War deine Idee in Russland politisches Theater zu machen?

Anna: Ja, das ist eine gute Frage. Ich denke, die meisten Probleme, die Russland derzeit hat, sind auf eine bestimmte Mentalität der russischen Bevölkerung zurückzuführen, die sehr hierarchisch ist. Die Leute suchen immer nach einem Anführer oder einer Person, normalerweise einem großen Mann, der ihnen sagt, was sie zu tun haben. Und so ist es auch in allen Staatstheatern, die wir haben, da gibt es immer diesen großen Direktor an der Spitze der Pyramide und alle anderen Leute dienen ihm. Das ist irgendwie lustig, in der russischen Sprache sagen wir nicht, dass wir im Theater arbeiten, wir sagen - Wir dienen einem Theater, ja. Und das ist etwas ganz anderes als das, was ich in meinem Leben tun möchte. Ich möchte niemandem dienen.

Frage: Konntest du in Russland etwas anderes realisieren?

Anna: Es war meine Vision, eine egalitäre Arbeitsform, und um ehrlich zu sein gab es doch einige Widerstände sogar von Seiten der Schauspieler:innen. Schauspieler sind es nicht gewohnt, so zu arbeiten. Von dem Moment an, in dem sie auf die Universität gehen, gibt es diesen Hauptlehrer, den sie den Meister nennen. Schon dieses Wort, der Meister. Von Anfang an werden sie blind glauben, was diese Person sagt, und sich selbst und ihre Schwächen und Stärken nur durch seine Augen wahrnehmen. Das ist übrigens immer ein Mann.

Frage: Wann hast du angefangen, mit dem Theater in Berlin zu arbeiten?

Anna: Fast von dem Moment an, als ich ankam. Ich hatte schon im Flugzeug eine Idee, das begann mit einem Theaterstück von Michail Bulgakow, das "Die Flucht" heißt. Ich habe viele seiner Theaterstücke und Bücher gelesen und mag sie im Allgemeinen sehr gerne, aber dieses hier habe ich nie verstanden, weil die Erzählung sehr unklar ist. Es gibt diese acht Träume von irgendetwas und man verliert sich immer in der Erzählung. Aber dann kam die Erleuchtung. Ich hatte zwei Tage lang nicht geschlafen, weil ich wirklich sehr schnell meine Sachen packen und alles organisieren musste, vor lauter Adrenalin konnte ich nicht schlafen. Dann war mein Flugzeug immer verspätet und ich hatte wirklich Angst, dass ich vielleicht nicht fliegen kann, weil das Flugzeug ständig Verspätung hat. Als ich endlich im Flugzeug saß, war es 8:00 Uhr morgens, und ich sagte: "Bitte bring mir etwas Wein”. Ich bekam Wein und fing an, dieses Buch wieder zu lesen, The Flight, und plötzlich war es mir klar: "Oh mein Gott, jetzt verstehe ich, worum es in dem Buch geht.”
Worüber Michail Bulgakow schrieb, geschah 1922, also vor etwa 100 Jahren, und es war genauso verrückt wie das was ich soeben erlebte. Es gibt auch diese Punkte auf der Landkarte wie Russland, die Ukraine, die Türkei, Istanbul, Europa, einige europäische Städte. Da dachte ich, diese Form eines Traums ist eine sehr interessante Erzählung, eine sehr interessante Form, um über die Flüchtlingserfahrung zu sprechen.

Frage: Hast du dir dann einige Schicksale überlegt und ein Script erstellt?

Anna: Nein, überhaupt nicht. Ich habe diese Geschichten gesammelt. Mein Flug ging zunächst nach Istanbul und ich war so überrascht, dort so viele meiner Freunde und Kollegen zu treffen, die aus dem gleichen Grund aus Russland geflohen sind, alle möglichen Arten von Verfolgung. Ich habe auch viele neue Leute kennen gelernt und war ich wirklich schockiert von ihren Geschichten, vor allem von den Konflikten mit ihren Eltern. Einige dieser Eltern sagten: "Oh, du unterstützt Putin nicht. Dann bist du auch nicht mehr unser Sohn. Wir wollen dich nicht in der Familie haben.” Da gab es wirklich große, große Konflikte innerhalb der Familien. Und die Leute haben mir verrückte Geschichten erzählt, wie sie von Russland in die Türkei gezogen sind. Und als ich dann in Berlin ankam, traf ich viele Menschen aus der Ukraine, und ihre Geschichten waren noch verrückter, wie sie vor Bomben flüchteten und anderes aus diesem furchtbaren Krieg.

Frage: Wie hat jetzt Bulgakow geholfen diese Geschichten zu erfassen?

Anna: Also zunächst habe ich all diese Geschichten gesammelt und dachte, es wäre spannend, sie aufzuführen, aber wie? Wenn ich die Leute zum Reden ermuunterte, hat jeder etwas erzählt, aber es waren Albträume, ich konnte nicht glauben, dass dies real sein soll, es war alles wie ein schlechter Traum. Aber ähnlich ist es bei Bulgakow, er hat dies umgesetzt und ich dachte, genau, der Traum ist die richtige Form für solche Geschichten. Daraus sollte eine Performance mit acht Träumen werden, die an verschiedenen Orten spielen.

Frage: Aber das klingt ja schon wie eine klassische Arbeit mit Autorin, Regisseurin, Schauspielerinnen die nach Text arbeiten.

Anna: Es lief anders. Ich traf in Berlin verschiedene Künstler und wir begannen zu improvisieren und uns auszutauschen, wir teilten einige meiner Arbeitsmethoden und es war genau so, wie ich es schon beschrieben habe. Und am Ende waren es acht Künstler, die an einer Produktion teilnahmen.

Frage: Es geht also nicht um die acht Geschichten der Menschen, die wir auf der Bühne sehen?

Anna: Ich würde sagen, wir haben uns eher von den Geschichten inspirieren lassen, aber es ist nicht so, dass die Performance selbst nicht real wäre. Wir verwenden dieses dokumentarische Material, dann kreieren wir eine Geschichte daraus und fügen etwas hinzu, wir sind sehr, sehr flexibel. Außerdem ist dies, wie wir sagen, ein Traum. Das ist also nicht die wahre Geschichte.

Frage:. Eine russiSche Regisseurin und ukrainische Schauspielerinnen. Ist das im Moment nicht furchtbar kompliziert?

Anna: Ich denke, es ist sehr wichtig bei Menschen aus verschiedenen Ländern, besonders aus Russland und Ukraine, dass man einander zuhört, das geschieht viel zu selten. Durch Reden und Zuhören können wir eine Menge Probleme lösen, das ist so einfach, auch wenn es wie ein kitschiger Spruch klingt, aber es hilft wirklich. Wenn man zuhört und erkennt, was die Bedürfnisse anderer Menschen sind, was sie gerne tun würden, was sie gerne fördern würden, welche Ideen ihnen wichtig sind, wenn man ihre Ideen unterstützt, dann ist eine gemeinsame Arbeit möglich. Für mich war das also wirklich wichtig, für mich als Mensch, ich bin sehr an ihren Geschichten interessiert. Und ich bin sehr daran interessiert, mit ukrainischen Künstlern zu sprechen und zu kommunizieren und zu verstehen, was sie denken. Wer sind sie, wie sieht ihre Welt aus, wie können wir gemeinsam etwas tun? Ich habe auch mich selbst befragt und über grundlegende Dinge wie Respekt, Vertrauen, Gespräche und Fragen nachgedacht.

Frage: War die Aufführung im Ballhaus Prinzenallee eure Premiere?

Anna: Davor hatten wir die offizielle Premiere, weil wir auch eine gewisse Finanzierung brauchten, um diese Premiere zu ermöglichen. Wir hatten kein Geld, so dass wir keine große Produktion mit schönen Kostümen, schönen Kulissen, Beleuchtung und so weiter stemmen konnten. Aber wir wollten trotzdem ein paar Rollen durchspielen und haben im September diesen kleinen Showcase gemacht, nur ein paar Szenen, an einem Ort namens PAS Petersburg Art Space Berlin.

Frage: Was ist The Run - Refugee Rave in Bezug auf das Genre?

Anna: Okay. Ich werde versuchen, es zu erklären. Das sind also acht Träume von acht verschiedenen Flüchtlingen oder Einwanderern oder Menschen mit Migrationshintergrund. Es hängt natürlich mit dem andauernden Krieg in der Ukraine zusammen. Das waren unsere Träume, unsere Alpträume in dieser Kriegszeit. Wir sind unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Orten, aber wir teilen diese gemeinsame Erfahrung, und wir möchten sie dem Publikum nahe bringen. Aber nicht moralistisch, also zu sagen: Putin ist ein schlechter Mensch! Krieg ist eine schlechte Sache! Das ist klar. Das weiß jeder. Es hat keinen Sinn, nur deswegen eine Performance zu machen.

Frage: Was kannst du denn im Theater sonst ereichen?

Anna: Theater soll auch Spaß machen. Wir wollen, dass unser Publikum uns besser kennenlernt. Uns näher kommt, uns besser fühlen kann. Berlin ist so eine internationale Stadt mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, aber jeder lebt auf seinem eigenen Planeten und ist auf seine eigenen Probleme konzentriert. Und das Theaer ist wirklich ein cooler Weg, um mit Menschen in Kontakt zu treten. Normalerweise empfinden Menschen etwas Unbekanntes als beängstigend. Wir sind hier um zu zeigen, dass wir nicht beängstigend sind. Vielleicht haben wir ja alle die gleichen Probleme.

Frage: Aber jetzt hast du mehrere Sprachen auf der Bühne und englische Untertitel, aber nicht immer. Wie kommen die Ideen den an, wenn das Publikum die Sprachen nicht kennt?

Anna: Es muss nicht immer Text sein. Wir haben übrigens Untertitel auf Deutsch und auf Englisch, manchmal wechseln wir, an einem Tag auf Deutsch, am anderen Tag auf Englisch. Es gibt fünf Sprachen, die in der Aufführung gesprochen werden: Englisch, Ukrainisch, Russisch, Rumänisch und Italienisch. Und ich wollte diese Sprachen beibehalten, weil ich finde, dass es schön ist, verschiedene Sprachen zu sprechen. Jede neue Sprache, die man lernt, ist eine neue Art zu denken.

Frage: Willst du eine eigene Sprache für dein Thema erschaffen?

Anna: Irgendwie schon, es gibt ja viel mehr Mittel als das Sprechen. Das Bühnen- und Kostümdesign von der großartigen Designerin Alexandra Kharina. Diese visuellen Dinge sind schon eine eigene Sprache. Außerdem haben wir eine fantastische Musik vom Komponisten Zaur Dakhuzhev geschaffen und von DJ Alla Krokha gespielt. Auch das ist eine Sprache, und es gibt viel Gesang und Musik, deshalb nennen wir es The Run Refugee Rave, also den echten Rave mit einem echten DJ, und wir haben eine professionelle Choreografie von Alexandr Andriyashkin. Es gibt viele Sprachen bei uns und The Run: Refugee Rave selbst ist bereits eine neue Sprache.