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Kurden im Gorki


KURDEN IM GORKI - Ein Theaterabend im Februar

Gestern Abend war ich im Gorki und habe mir die Theateradaption des Romans "Dschinns" von Fatma Aydemir angesehen. Im Prinzip eine Pflichtaufgabe für mich, denn die Autorin spielt auch eine Rolle in meiner kommenden Reihe "Literatur Aktion Wedding" im Ballhaus Prinzenallee. In der ersten Runde im Frühjahr/Sommer 2023 kann Fatma Aydemir aus Termingründen nicht persönlich auftreten, aber ihr erster Roman "Ellbogen" kommt in einer szenischen Lesung im Vorprogramm des Auftaktabends mit Nadire Biskin ins Spiel, am 26. März. Dazu später mehr auf diesem brandneuen Account
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und auf der Website für die Reihe "Literatur Aktion Wedding", die gerade vorbereitet wird.

Die Theateraufführung von "Dschinns": Sie endete nach gut zwei Stunden ohne Pause durchgespielt mit einem Riesenapplaus des gut gemischten Publikums im ausverkauften Saal. Und sie begann mit einer sehr interessanten Regieidee von Nurkan Erpulat. Die Geschichte: Der Fabrikarbeiter Süleyman kehrt nach 3 Jahrzehnten in Deutschland mit seinem Ersparten und einer Frührente nach Istanbul zurück, um dort eine Eigentumswohnung zu beziehen, in der er aber schon am Tag des Einzugs stirbt. Die Umsetzung: Nun wird dieser Stoff aus der Romanprosa so in einen Theaterdialog überführt, dass alle Figuren des Stückes im ersten Akt (oder Prolog) in weißen Anzügen auf der Bühne sind. Das sind zwei Töchter, zwei Söhne und die Gattin von Süleyman. Jede dieser Figuren rezitiert abwechselnd Sätze aus dem Roman, die sie an eine andere Figur richtet, und diese andere Figur wird immer als Süleyman adressiert. So wird der Sohn zu Süleyman, auch die Frau und die Töchter nehmen seine Identität an und im Verlauf dieses kollektiven Gesanges bauen die Schauspieler:innen tanzend eine Art Süleyman-Gedächtnis-Statue aus ihren Körpern auf.

Das hat mir gut gefallen, auch der Gesang von Anthony Hüseyin, der als tricksterhafte Queer-Person im ganzen Stück einen personalen Kontrapunkt zur Familie darstellt, aber auch die Lieder des Abends zum Vortrag brachte, sehr eindrucksvoll. Wie wichtig diese Position oder auch Figur war, zeigte sich dann im Verlauf der Handlung, in der sich alles um die Geschichte der Familie dreht. Die wird aus der Sicht der Frauen erzählt, was dem durchaus bekannten Stoff seine spezifische dramaturgische Perspektive verpasst. In Kürze notiert geht es um: die soziokulturellen Problematiken der Gastarbeiter in Deutschland, ihre Ausgrenzung, um individuelle Migrationsgeschichten, die ökonomische Ausbeutung des Arbeiters, als Mann in der Metallfabrik, als Frau in der Familie, die kulturelle Entfremdung der Anatolier in den Großstädten, die Wurzellosigkeit der zweiten Generation, die Emanzipation einer Frau auf Kosten des Familienzusammenhangs, die Abwege der Jugend, das zurückgelassene Kofferkind und so weiter.

Überraschungen im Drama: Zum einen waren das die spannungsvollen Wechsel in den Szenenfolgen, hochdramatische Szenerien in den Mutter-Tochter Konflikten, in schnellem Wechsel gefolgt von teilweise burlesken Episoden mit viel tänzerischem Körpereinsatz. Besonders die sportlich und humorige Aysima Ergün turnte sich begeistert durch die Requisiten, die in verschiedenen Ausführungen und einer raffinierten Beleuchtung den zentralen Lebensraum der Familie darstellen, das Wohnzimmer - am Schluss fliegt es in die Luft. Zum anderen war das die subtile, fast unterschwellige Hinführung zu der Tatsache, dass wir es hier gar nicht mit einer türkischen Familie zu tun haben, sondern mit einer kurdischen, die verdrängt hat, was das Kurdische eigentlich ist und deren Kinder die Sprache gar nicht gelernt haben. Das familiäre Manko - sehr schön beschrieben als "Loch in der Familie" war die Gelegenheit für den Queer-Sänger Hüseyin - tricksterhaft changierend zwischen Rollenfigur und chorischem Engel oder eben einem Dschinn - in einem Bericht von einer Demo an den inhaftierten Kurdenführer und politischen Shriftsteller Apo Öcalan zu erinnern. So öffnet sich das Familienstück auf seiner politischen Flanke in eine Richtung, die Lust auf mehr macht.

Publikumsgespräch nach einer kurzen Pause: Die Schauspieler:innen erholten sich vom minutenlangen Beifallssturm, wir uns leider nicht beim Bier weil die Bar zu war, und dann kam ich mir im technisch hochgerüsteten Saal des Gorki vor wie in eine pietistische Epoche des 18. Jahrhunderts versetzt. Einige der Zuschauerinnen erzählten, wie sie weinen mussten, die Schauspieler berichteten von Weinanfällen bei der Lektüre des Buches und überhaupt war in diesem Gespräch extrem viel von dem Gefühl, besonders dem der Identifikation zu vernehmen. Der altehrwürdige ästhetische Auftrag der Katharsis in Ehren, aber wir sollten weniger weinen und uns mehr über das kritische Potential dieser Kunst unterhalten.
https://www.gorki.de/de/dschinns